Hospital zum Heiligen Geist

Shared Reading – Geteiltes Lesen einer Gruppe ehemaliger Patienten der Psychosomatischen Klinik

Ein Teilnehmer der Shared Reading Gruppe erinnert sich an ein Gedicht, das ihm besonders im Gedächtnis geblieben ist: „Der unbegangene Weg“ von Robert Frost. Dieses erlaube ihm, weniger zu hadern, die eigenen Entscheidungen besser anzunehmen und mit dem Weg, den man gegangen ist, zurechtzukommen. Das Gedicht endet mit den Zeilen: „und ich – ich schlug den einen ein, den weniger begangenen, und dieses war der ganze Unterschied.“

Seit März 2017 treffen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Shared Reading Gruppe regelmäßig im gelben Salon des Literaturhauses. Die Veranstaltung dauert eineinhalb Stunden, man trinkt Tee und isst Kekse, es wird zunächst eine Kurzgeschichte gelesen, anschließendein Gedicht. Beides bringt die Leiterin der Gruppe mit.
Das Format der Geschichten ist kurz genug, um langsam zu lesen, die Vorleserin zu wechseln, auf Worte und deren Wirkung zu achten und darauf, was sie bei sich und bei den anderen weiter auslösen. Die Themen handeln vom Leben, von widersprüchlichen Gefühlen und Beziehungen,von Schicksalen, von gelungenen und nicht gelungenen Lösungsversuchen. Ein Mann wartet vor dem OP, in dem seine krebskranke Frau operiert wird, ein Vater versucht auf abenteuerliche und ungewöhnliche Weise ein guter Vater zu sein, eine Frau verliert sich beim Betrachten eines Handschuhs in Fantasien über Ungelebtes.

Anschließend liest man gemeinsam ein Gedicht. Manchmal erscheint es im ersten Moment unverständlich. Die Gruppe hat gelernt, den Einfällen und Assoziationen der anderen zu vertrauen, man sammelt, lässt sich zusammen darauf ein und ist bereit dafür, dass nicht selten das Verstehen am Ende doch noch eine ganz andere Wendung nimmt als ursprünglich gedacht. Marion Poschmanns Gedicht „Wonderwheel“ wird von zwei Betroffenen erlebt wie der Unterschied zwischen einer Panikattacke und der Zeit dazwischen. Ein vermeintliches Liebesgedicht ist am Ende keines mehr, das Gedicht „Giersch“ führt zu guter Laune.

Das ursprünglich aus Liverpool stammende Shared Reading wurde gegründet von der Engländerin Jane Davis, die ihre eigene Lebenskrise u. a. mit dem Lesen von Doris Lessing behob. Im März 2017 lud das Literaturhaus Frankfurt den Berliner Carsten Sommerfeld ein, um diese Methode des gemeinsamen Lesens kennenzulernen. Shared Reading startete als Pilotprojekt mit einer sogenannten „Gesundheitsgruppe“. Letztere setzte sich zusammen aus ehemaligen Patientinnen und Patienten der Psychosomatischen Klinik. Alle hatten dort Erfahrungen mit Gruppentherapie gemacht, alle hatten einen längeren Aufenthalt hinter sich.

Im Rückblick, fast fünf Jahre nach Beginn des Projektes und nach pandemiebedingten eineinhalb Jahren online Shared Reading, bei treuer Teilnahme stellt man sich die Frage: Wirkt Shared Reading? Es habe eine gute Wirkung auf die Stimmung, es sei wie ein „Glückskeks“, eine Geschichte, die man „auspacken“ könne und die einen mitnehme, wie auf einen „Kurztrip“. Gerade die Übersichtlichkeit der Geschichte mache sie verdaubar. Kurzgeschichten beschäftigen sich mit allen Fragen des Lebens, die Lösungen, die der Protagonist oder die Heldin finden, sind nicht unbedingt geeignet für jeden selbst, bieten aber eine gute Voraussetzung, über die eigene Situation nachdenken oder sich erinnern zu können. Besonders intensive Gefühle im Zusammenhang mit der Geschichte oder dem Gedicht führten dazu, dass man sie in Erinnerung behalte. Worte oder Zeilen blieben hängen, würden bedeutsam, Gedichte hingen für eine Weile am Kühlschrank oder würden mit in die ambulante Psychotherapie genommen.

Anders als in der Gruppentherapie in der Klinik müsse man auf den Protagonisten nicht „aufpassen“, man müsse nicht fürchten, ihn kränken zu können, man könne ihn ablehnen, bewundern, verrückt oder seltsam finden oder beneiden. Ein Teilnehmer beschreibt, wie er einen Protagonisten beneidet, der plötzlich einen Verrückten spielt, um aus seinem bisherigen Leben aussteigen zu können. Er selbst habe krank werden müssen, um aus dem Leben herauszukommen, das er so gehasst habe.

Gedichte bringen einen Gefühlszustand auf den Punkt, der im eigenen Kopf noch keinen guten Begriff gefunden hat: „Der Autor hat verstanden, wie ich es meinte.“ Während in der Psychosomatischen Klinik sogenannte Non-Verbale Verfahren wie die Kunsttherapie oder die Konzentrative Bewegungstherapie helfen sollen, schwierigen und unausgesprochenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, gelingt das guter Literatur durch die geeigneten Worte im Gedicht oder in der Geschichte.

Bedarf es also nur eines Aufeinandertreffens von Depression, Angsterkrankungen und somatoformen Störungen mit guter Literatur?

Im Laufe der Zeit sind bei einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Veränderungen im Umgang mit anderen eingetreten: Eine Teilnehmerin beschreibt ihre üblicherweise schnell aufkeimende Wut, die sie im Kontakt mit anderen befalle, da sie grundsätzlich andere als bedrohlich wahrnehme. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass sie in einer Gruppe, in der jede oder jeder (zu einem bestimmten Text) zunächst mal alles sagen dürfe, anderen Meinungen durchaus ruhiger entgegentreten könne, da sie es als weniger bedrohlich erlebe. Dass zwischen ihr und den anderen ein Text stehe, gebe ihr Sicherheit.

Die Gruppe habe im Laufe der Zeit gelernt, teils diametral entgegengesetzte Meinungen von Teilnehmen wertzuschätzen, was die Fähigkeit, eigene widersprüchliche Gefühle zu tolerieren, verbessere. Es helfe auch, Spannungen besser auszuhalten, geduldiger und toleranter sich selbst aber auch anderen gegenüber zu werden. Ein ehemaliger Patient beschreibt, dass er in der Gruppe seinen Zynismus verloren habe, da er Gefühle aufrichtig und direkt äußern könne. Die Einstellung zu anderen verändere sich: Eine Teilnehmerin schildert, dass sie entdeckt habe, dass andere Menschen viel komplexer seien, als sie bisher gedacht habe.

Und am Ende sei es die Gemeinschaft, die in ihrer Vertrautheit und Offenheit, aber auch in der gemeinsamen Vergangenheit eine besondere Verbundenheit liefere, die einer Teilnehmerin das Gedicht von Erich Fried so in Erinnerung ruft:

„…wenn man die Fähigkeit hätte, sein Unglück mit Worten zu fassen und das andere verstehen, wäre das fast Glück.“

Oberärztin

Dr. med. Christiane Faust-Bettermann

Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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