Krankenhaus Nordwest

Ursache für Adipositas – Störungen der hormonellen und mikrobiellen Steuerungsmechanismen

Das Adipositaszentrum wurde für seine hohe Behandlungsqualität und hervorragende Arbeit von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) zertifiziert und darf sich ab sofort „Kompetenzzentrum für Adipositaschirurgie“ nennen. Der Zentrumsleiterin, Dr. med. Sylvia Weiner, bescheinigt zudem das Magazin FOCUS Gesundheit besondere Expertise als TOP Medizinerin 2018. Damit gilt das Zentrum in Frankfurt und Umgebung als führend. Die Redaktion Die Stiftung sprach mit Dr. med. Sylvia Weiner.

DIE STIFTUNG:

Menschen mit einem BMI höher als 35 gelten als stark übergewichtig – Fachleute sprechen auch von adipös. Ihr Anteil an der Gesellschaft nimmt stetig zu. Worauf führen Sie das zurück?

Dr. med. Syliva Weiner: » Es scheint, als ob noch kein Mittel gegen die zunehmende Adipositas in unserer Gesellschaft existiert, denn die Ursachen sind vielfältig und noch Bestandteil aktueller wissenschaftlicher Forschung. Neben genetischer Vorbelastung spielen sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren, wie Bewegungsmangel und ein unausgewogenes Nahrungsangebot eine Rolle. Dennoch wird die Erkrankung zunehmend im Sinne einer chronisch-entzündlichen Stoffwechsel-Erkrankung begriffen. Eine Vielzahl von hormonellen Steuerungsmechanismen reguliert das Körpergewicht. Forschungsergebnisse zeigen, dass Fehlregulierungen dieser Steuerkreise, aber auch ein verändertes Mikrobiom eine Rolle spielen. Im Falle einer solchen Fehlregulation auf mikrobieller und hormoneller Ebene können Lebensstilumstellungen allein keinen ausreichenden dauerhaften Effekt erbringen. Im Gegenteil: Mit der Anzahl der Diäten steigt das Gewicht. «

Welche gesundheitlichen und psychischen Folgen kann eine Adipositas-Erkrankung für Betroffene haben?

» Mit zunehmendem Übergewicht steigt das Risiko für Erkrankungen, die mit der Adipositas einhergehen, allen voran gesundheitliche, aber leider auch psychische Beschwerden. Adipositas gilt als wichtigster Promoter zahlreicher Zivilisationserkrankungen, darunter Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes mellitus Typ 2 sowie Bluthochdruck. Zudem steht Übergewicht im Verdacht, die Entstehung von Krebserkrankungen zu begünstigen. Adipositas ist daher von der WHO als eine der zentralen vermeidbaren Todesursachen der Gegenwart klassifiziert. Hinzu kommen immense psychische Beschwerden: Adipöse leiden häufig unter gesellschaftlicher Diskriminierung, da sie oft als unmotiviert und undiszipliniert gesehen werden. Permanente Stigmatisierung und Zuwendungsverweigerung führen bei den Patienten zu einer Verstärkung psychologischer Risikofaktoren wie einer Minderung des Selbstwertgefühls. Studien konnten beispielsweise zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Adipositas ein geringeres Selbstwertgefühl aufweisen als normalgewichtige Gleichaltrige. «

Vielen Übergewichtigen fällt es sehr schwer, aus eigener Kraft Gewicht zu verlieren. Warum ist das so?

» Unter der Hypothese, dass es sich um eine durch verschiedene Störungen auf hormoneller und mikrobieller Ebene verursachte Stoffwechseldysregulation handelt, ist eine Gewichtsabnahme allein durch eine Lebensstilmodifikation nicht möglich. Eine kausale Therapie im Sinne der Veränderungen der intestinalen Regulationsmechanismen ist entsprechend dem aktuellen wissenschaftlichen Stand nur durch eine operative Therapie möglich, welche in Deutschland jedoch noch nicht hinreichend gesellschaftlich akzeptiert ist. Und auch für die konservative Therapie gibt es nur unzureichende Angebote. Weiterhin werden Adipöse nicht als Kranke wahrgenommen, sondern als unmotivierte, faule und lustlose Fresser, die keine Lust haben, etwas zu verändern. Tatsächlich gelingt es nur circa 4 Prozent der Patienten, ihr Körpergewicht dauerhaft um mehr als 5 Prozent zu senken, was den chronischen Charakter der Erkrankung belegt. Auch große Studien zum Effekt einer Ernährungsumstellung auf Lebensqualität und Lebenserwartung konnten bei Adipositaspatienten keine dauerhaften oder relevanten gesundheitlichen Verbesserungen erzielen. Für die Patienten ist dies eine große Belastung, da sie sich trotz maximaler Anstrengung und Einschränkung als Verlierer sehen und auch von anderen als solche wahrgenommen werden. «

Diäten boomen – Wie finden Abnehmwillige aus dem immensen Angebot den für sie idealen Weg und worauf sollten sie bei der Auswahl achten?

» „Extremdiäten“ mit einer einseitigen Lebensmittelauswahl oder extrem niedriger Energiezufuhr versprechen oft eine rasche Gewichtsabnahme und klingen daher für Betroffene sehr verlockend. Von Diäten dieser Art raten wir jedoch dringend ab, da sie erhebliche gesundheitliche Risiken bergen und keinen langfristigen Erfolg versprechen. Ratsamer ist eine gezielte Ernährungsumstellung auf Grundlage einer exakten Ernährungsanalyse. Diese ist in Kombination mit einer konsequenten Bewegungstherapie der Schlüssel zum Erfolg. Wichtig ist außerdem, dass eine ausreichende Eiweißzufuhr sichergestellt ist, um den Abbau der eigenen Muskulatur bei der Ernährungsumstellung zu verhindern. Die Zusammensetzung der Nahrung beeinflusst den Therapieerfolg weniger als deren Energiegehalt und die Fähigkeit, die geänderte Ernährungsweise dauerhaft umzusetzen. Dies erfordert ein multimodales Programm mit Bewegungstherapeuten, Verhaltenstherapeuten und Ernährungsberatern, die ambulant die Patienten mindestens 52 Wochen begleiten. Wir bieten dies auch im Rahmen des OPTIFAST-52-Programmes am Krankenhaus Nordwest an. Sofern ein solches Programm durchgeführt wurde und das Gewicht nicht ausreichend reduziert werden konnte, besteht die Notwendigkeit einer operativen Therapie als Ultima Ratio. Patienten mit einem BMI (Body Mass Index = kg/m2) über 50 kg/ m2 sollten entsprechend der S3-Leitlinie direkt einer operativen Therapie zugeführt werden, da es keinen Nachweis eines dauerhaften Erfolges konservativer Therapie in dieser hohen Gewichtsklasse gibt. Gleiches gilt im Übrigen für an Diabetes erkrankte Patienten ab einem BMI > 30 kg/m2, wenn dieser nur unzureichend einstellbar ist. «

Ein chirurgischer Eingriff sollte erst durchgeführt werden, wenn der Patient auf herkömmlichem Wege nicht abnehmen kann. Wann raten Sie zur Operation?

» Wir raten zur operativen Therapie, wenn ein Patient ab einem BMI von 35 kg/m2 und assoziierten Begleiterkrankungen, wie zum Beispiel Bluthochdruck, Diabetes oder Schlafapnoe nach einer mindestens sechs monatigen Behandlung durch eine professionelle Ernährungsberatung, ein Bewegungsprogramm sowie eine Verhaltenstherapie nicht mindestens 15 Prozent seines Körpergewichts abnehmen konnte. Bei Patienten mit einem BMI von mindestens 40 kg/m2 ohne Begleiterkrankungen gelten die gleichen Voraussetzungen. Hierbei beachten wir die S3-Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie e.V. (DGAV), welche auf Basis des aktuellen Stands der wissenschaftlichen Kenntnisse erstellt wurden. Im Patientenrechtegesetz ist das Recht des Patienten auf Behandlung entsprechend dem anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse verbürgt und daher für uns bindend. Unter bestimmten Umständen kann eine Operation aber auch stattfinden, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgt ist. Diese sogenannte Primär-Indikation kann gestellt werden, wenn eine der folgenden Bedingungen gegeben ist: bei Patienten mit einem BMI über 50 kg/m2, bei Patienten, bei denen ein konservativer Therapieversuch durch das multidisziplinäre Team als nicht erfolgsversprechend beziehungsweise aussichtslos eingestuft wird, sowie bei Patienten mit besonderer Schwere von Begleit- und Folgeerkrankungen, die keinen Aufschub eines operativen Eingriffs erlauben. «

Das Gespräch führten Brigitte Ziegelmayer und Julia Schaaf.

Chefärztin

Dr. med. Sylvia Weiner

Fachärztin für Allgemeinchirurgie, Notfallmedizin, Adipositaschirurgie

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