Stiftung Hospital zum Heiligen Geist

Um Leben und Tod – Hoffnung und Mut: Die Herausforderungen der personalisierten Medizin in der Onkologie

Neuentwicklungen in der Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen haben in nur wenigen Jahren grundsätzlich wirksamere Behandlungsmöglichkeiten geschaffen. Die neuen, oft im Verhältnis zu Biomarkern individuell definierbaren Perspektiven führen bei allen Beteiligten zu einem erhöhten Anspruch auf Heilung und haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und die Inhalte der ärztlichen Fürsorge.

Die neuen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten wecken bei Patienten und Ärzten die Erwartung auf eine verlässlich kalkulierbare, optimale Wirksamkeit der individualisierten Therapie.

Anfang der 1990er Jahre hatten Patienten mit Lungen- oder Dickdarmkrebs im fortgeschrittenen Stadium eine mittlere Lebenserwartung von nur wenigen Monaten und wirksame ursächliche Heilungsmöglichkeiten standen kaum zur Verfügung. Die Behandlungssituation war von relativer therapeutischer Hilflosigkeit und schicksalhaft unausweichlichem Krankheitsverlauf geprägt.

Die Entwicklung neuer Operationsmethoden, Bestrahlungstechniken und zytostatisch wirksamer Medikamente sowie die Kombination der verschiedenen Therapiemodalitäten haben bei den meisten Krebserkrankungen zu einer Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit nach Diagnosestellung eines fortgeschrittenen Krankheitsstadiums geführt. Die gesteigerte Teilnahme an Früherkennungsmaßnahmen führt zu einer vermehrten Diagnose früher, und damit heilbarer, Krankheitsstadien.

Ein besonderer Durchbruch in der Krebsmedizin scheint nun durch die Möglichkeiten der genetischen Typisierung individueller Tumoren zu gelingen. Die Charakterisierung einzelner Zellmerkmale verspricht Entscheidungskriterien für die voraussichtlich wirksamste Therapie zu liefern und skizziert ein prognostisches Bild für die wahrscheinliche Entwicklung der jeweiligen Erkrankung. Medikamente mit gezielter zytostatischer Wirkung werden durch Stimulatoren tumorkontrollierender Elemente des Immunsystems wirksam ergänzt, so dass inzwischen langfristige stabile Krankheitsverläufe im Sinne einer chronischen Erkrankung beobachtet werden.

Die neuen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten erwecken bei Patienten und Ärzten die Erwartung auf eine verlässlich kalkulierbare, optimale Wirksamkeit der individualisierten Therapie. Diese Hoffnung ist auch deshalb besonders gewachsen, weil es lange Zeit keinen grundsätzlich neuartigen therapeutischen Durchbruch für die meisten Krebserkrankungen gegeben hat. Dies könnte sich nun mit der sogenannten „personalisierten Medizin“ ändern.

Doch bei aller Hoffnung ist Zurückhaltung und nüchterne Reflexion geboten. Zum einen sei daran erinnert, dass die Ansätze der somatischen Gentherapie, die Anfang der 1990er Jahre in die klinische Phase gingen, eine rasche Heilung monogenetischer Erkrankungen versprach. Selbst Kritiker des Verfahrens bezweifelten damals kaum, dass in wenigen Jahren vorher unerreichbare Heilungserfolge möglich würden, da das wissenschaftstheoretische Konzept, Krankheiten direkt an ihren genetischen Ursachen zu bekämpfen, „einfach“ und überzeugend klang. Die großflächigen Heilungserfolge sind bis heute jedoch ausgeblieben.

Zudem beeinflusst die Erwartung auf neuartige Behandlungserfolge die Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Erkrankung und sein Verhältnis zum Arzt und der Institution Krankenhaus. Merkmalsbezogene Entscheidungsalgorithmen suggerieren Sicherheit und lassen die Möglichkeit des Therapieversagens kaum zu. In diesem Erfolgsszenario scheinen Gedanken zu Krankheitsbedrohung und Existenzangst unberechtigt und werden vermieden. Vergessen wird dabei, dass jede Erkrankung ein Hinweis auf die Endlichkeit des Lebens ist und ein Gewahrwerden der Sterblichkeit, ein Memento mori, darstellt. Gespräche zwischen Arzt und Patienten fokussieren jedoch vor allem auf sachliche Inhalte und sind kaum auf krankheitsbedingte emotionale und seelische Faktoren bezogen. Die ärztliche Verantwortung für das bestmögliche Wohlergehen des Patienten wird zunehmend auf scheinbar berechenbare Inhalte konzentriert und auf psychosozialer Ebene kaum noch getragen. Die Eventualität des Sterbens hat kaum einen Platz, Zuversicht und Kampfbereitschaft sind auf beiden Seiten gefragt, die Begleitung in den Tod als „Niederlage“ der medizinischen Möglichkeiten findet erst wieder in der Palliativmedizin einen professionellen Rahmen. In kritisch und lebensbedrohlich empfundenen Erkrankungssituationen scheint es für Patienten kaum möglich, ihre Kraft und Energie zum einen für die Hoffnung auf eine lebensverlängernde Behandlung und zum anderen auf die Vorbereitung auf einen möglichen Sterbeprozess aufzuteilen.

Das Zulassen und Formulieren eigener Ängste und Wünsche stärkt das physische und seelische Persönlichkeitsbewusstsein des Einzelnen und der Behandlungsprozess wird nach individuellen Bedürfnissen mündiger und verantwortlicher mitgestaltet.

Jeder neue erfolgversprechende therapeutische Ansatz trägt zudem das verführerische Potenzial in sich, die schwierigen und belastenden existenziellen Fragen wegzuschieben. Diese Verführung besteht für Arzt und Patient in gleicher Weise. Um Lebensbedrohung und Tod im Arzt-Patienten-Dialog zu adressieren, bedarf es zunächst einer aktiveren und ehrlichen Auseinandersetzung der Akteure mit diesen Themen. Reflektionen über Leiden und Tod jenseits der Möglichkeiten der Medizin können aus geschichtlicher, philosophischer, spiritueller oder ethischer Sicht angestoßen werden und gleichermaßen Patienten und Bezugspersonen sowie an der Behandlung beteiligte professionelle Personen einbeziehen. Vorbilder aus der Antike und verschiedenen Religionen, Leiden und Todesangst mit Weisheit und Akzeptanz zu begegnen, relativieren die heutige Vorstellung des Berechen- und Beherrschbaren und stellen damit eine Lebenshilfe dar. Philosophisch-spirituelle Betrachtungen des Seins helfen, die eigene Not aus anderen Perspektiven neu zu erkennen und zu bewerten und führt so zu einer mentalen Befreiung von Vorgezeichnetem und Erhofftem. Das Zulassen und Formulieren eigener Ängste und Wünsche stärkt das physische und seelische Persönlichkeitsbewusstsein des Einzelnen und der Behandlungsprozess wird nach individuellen Bedürfnissen mündiger und verantwortlicher mitgestaltet. Damit kann eine entscheidende Versorgungslücke der „personalisierten Medizin“ geschlossen werden, die sich nach bisherigem Verständnis nur an dem individuellen genetischen Code des Patienten orientiert. Die Einbeziehung der Biografie, der persönlichen Erlebnisse, Wünsche und Hoffnungen ist unabdingbar für eine personalisierte Medizin, die diesem Namen gerecht werden will. Zudem können Ärzte durch geschichtlich-philosophische Vergleiche und medizin-ethische Betrachtungen die eigentliche Dimension ihrer Verantwortlichkeit überdenken und ihrer Schlüsselrolle in der neuzeitlichen Medizin angemessener gerecht werden.

Eine solche Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die aktuelle Struktur der Patientenversorgung und unser gesamtes Gesundheitssystem. Die demokratischere Beteiligung des Einzelnen an diagnostischen und therapeutischen Prozessen, an Therapieentscheidungen und Behandlungsabläufen erscheint zwar als fortschreitende Errungenschaft des ethischen und rechtlichen Diskurses der letzten 100 Jahre, widerspricht aber anderseits der heutigen Vorstellung von Standards und Leitlinien als Optima einer qualitätsgesicherten Versorgung.

Die Berücksichtigung individueller Vorstellungen in der Behandlung setzt eine Neugewichtung der therapeutischen Verantwortung voraus und erfordert eine selbstbewusste, mutige Beteiligung des Patienten in eigenkompetenter Rolle. Diese wird er jedoch nur einnehmen können, wenn ein Schwerpunkt des Gesundheitssystems zukünftig in der Aufklärung und Förderung der Gesundheitskompetenz liegt.

Es ist eine gesellschaftliche und gesundheitspolitische Aufgabe, in einer von maximaler Informiertheit und scheinbarer Berechenbarkeit gekennzeichneten Zeit, die grundlegenden Elemente menschlicher Hoffnung auf Leben, die Akzeptanz von Gebrechlichkeit und Endlichkeit ebenso wie das Wagnis eines individuellen Lebensentwurfs und der Möglichkeit seines Scheiterns zu erkennen und als Basis einer jeden medizinischen Behandlung anzuerkennen.

Informationen zur Veranstaltungsreihe

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Eine Anmeldung zu den Veranstaltungen kann online über die Website der Evangelischen Akademie Frankfurt erfolgen. Dafür wählen Sie im Veranstaltungskalender den jeweiligen Veranstaltungstermin aus. www.evangelische-akademie.de/veranstaltungen/kalender/

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Chefärztin

Prof. Dr. med. Elke Jäger

Fachärztin für Innere Medizin, Fachärztin für Hämatologie und Onkologie, Palliativmedizin

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