Krankenhaus Nordwest

Patient Blood Management „extrem“ – Blutungsmanagement bei den Zeugen Jehovas

Zeugen Jehovas – eine „Herausforderung“ für die operative Medizin

Der 1869 in den USA gegründeten Glaubensgemeinschaft „Zeugen Jehovas“ (ZJ) gehören weltweit etwa acht Millionen Mitglieder an, in Deutschland derzeit rund 166.000. Der rechtliche Status ist der einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die ZJ sind somit rechtlich den traditionellen Kirchen gleichgestellt.

Eine insbesondere für die im operativen Bereich tätigen Mediziner wichtige Besonderheit bei der Behandlung von ZJ ist deren strikte Ablehnung einer Transfusion von Fremdblut (FB), d. h. von allogenen Erythrozyten und Thrombozyten sowie von allogenem Plasma. Selbst vor großen Operationen mit statistisch belegtem Transfusionsbedarf wird ein gläubiger ZJ seine behandelnden Ärzte auf seine Ablehnung von FB-Transfusionen hinweisen – auch für den Fall der Entwicklung einer letalen Anämie. Entschließt sich das Ärzteteam zum Abschluss eines Behandlungsvertrages mit dem Patienten, ist es aus ethischer und juristischer Sicht an vorher getroffene Absprachen gebunden.

Dennoch können auch ZJ von modernen Therapien einschließlich großer operativer Eingriffe profitieren, ohne dass ein übertrieben hohes Letalitätsrisiko in Kauf genommen werden muss. Die besondere Situation der ZJ besteht allerdings darin, dass im Falle einer kritischen Verdünnungsanämie bzw. Koagulopathie die Option zur Transfusion von allogenen Blutkomponenten als ultima ratio grundsätzlich fehlt.

Ziel bei der perioperativen Behandlung von ZJ muss es daher sein, den „point of no return“ einer letalen Anämie bzw. Koagulopathie niemals zu erreichen. Voraussetzung ist ein perioperatives Management, welches – in der jeweils gebotenen Abstufung – die zur Verfügung stehenden und von ZJ akzeptierten Maßnahmen zur Vermeidung von FB-Transfusionen beinhaltet. Entscheidend ist eine enge Absprache und interdisziplinäre Kooperation aller behandelnden Fachgebiete. Eine besondere Rolle spielt hierbei die enge Zusammenarbeit zwischen Anästhesisten und Chirurgen.

Sämtliche im Folgenden dargestellten Maßnahmen zur Vermeidung der Transfusion von FB, Fremdplasma und Thrombozyten werden am Krankenhaus Nordwest auch bei operativen Patienten durchgeführt, die nicht der Glaubensgemeinschaft der ZJ angehören. Generell sollte heute aus medizinischen und ökonomischen Gründen eine unnötige Transfusion von FB unbedingt vermieden werden. Aufgrund seiner hohen Expertise bei der Vermeidung von FB-Transfusionen (auch bei komplexen operativen Eingriffen) gehört das Krankenhaus Nordwest zu den sogenannten „Vertrauenskliniken“ der ZJ und wird von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft häufig frequentiert. 

 

Präoperatives Management von ZJ

Ziel ist es, Risikofaktoren, welche die Kompensation einer intra-, bzw. postoperativ auftretenden Anämie beeinträchtigen könnten, bereits präoperativ zu identifizieren und bis zum OP-Termin entweder gänzlich zu eliminieren oder zumindest bestmöglich zu kontrollieren. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Evaluation und ggf. Verbesserung des kardiopulmonalen Zustandes des Patienten sowie die Identifikation und Korrektur einer präoperativen Anämie bzw. Gerinnungsstörung.


Anästhesiologische Aufklärung

Neben der allgemeinen anästhesiologischen Risikoaufklärung steht bei ZJ die Abklärung der Akzeptanz von FB-vermeidenden Verfahren im Vordergrund (siehe Tabelle).

Während eine Vielzahl von ZJ bzgl. FB-vermeidender Maßnahmen die Klinik bereits bestens informiert betritt, besteht insbesondere bei älteren Patienten häufig ein erhebliches Informationsdefizit. Die Folge ist dann oft eine generelle Ablehnung sämtlicher angebotener und im Allgemeinen von ZJ auch akzeptierter Maßnahmen. Oft kann hier die Einschaltung des lokalen oder regionalen Krankenhaus-Verbindungskomitees der ZJ hilfreich sein. Letztlich sollte der Anästhesist eine detaillierte schriftliche Einwilligung in sämtliche potenziell zum Einsatz kommenden Verfahren und Substanzen von dem ZJ einholen, da zum Zeitpunkt der konkreten Indikationsstellung häufig keine Einwilligung des Patienten mehr möglich ist.

 

Perioperatives Management von Blutverlusten bei ZJ

Perioperative Gewinnung von Eigenblut
Wenn möglich sollte bei großen operativen Eingriffen Eigenblut des Patienten gesammelt und rücktransfundiert werden. Dies kann in Form einer „akuten normovolämischen Hämodilution ANH“ (Gewinnung von autologem Vollblut unmittelbar nach Narkoseeinleitung) oder der „maschinellen Autotransfusion MAT“ (Gewinnung autologer Erythrozyten während der Operation aus abgesaugtem Wundblut) erfolgen. ZJ akzeptieren ANH und MAT, vorausgesetzt Patient, Schlauchsysteme und Sammelbeutel bilden zu jedem Zeitpunkt ein geschlossenes System.

Reduktion intraoperativer Blutverluste
Sowohl der Operateur als auch der Anästhesist können reduzierend auf den Blutverlust (BV) des Patienten einwirken. Folgende Maßnahmen stehen hierfür zur Verfügung:

  • Anwendung spezieller OP-Techniken
  • Lagerung des OP-Gebietes über Herzhöhe
  • Anwendung von Regionalanästhesie bzw. totaler intravenöser Anästhesie (TIVA)
  • Aufrechterhaltung von Normothermie
  • Aufrechterhaltung eines physiologischen pH-Wertes
  • ZVD-Management
  • Kontrollierte Hypotension
  • Auswahl möglichst gerinnungsinaktiver Infusionslösungen
  • Frühzeitiges Gerinnungsmanagement: Fibrinogen-Konzentrat, PPSB, Tranexamsäure, Desmopressin, Faktor-XIII-Konzentrat, rekombinantes Faktor-VIIa-Konzentrat

 

Da der Ersatz eines BV durch kristalloide und/oder kolloidale Infusionslösungen immer zu einer Verdünnung sämtlicher Komponenten des Gerinnungs- und Fibrinolysesystems und letztlich zur Ausbildung einer Verdünnungskoagulopathie führt, spielt die Stabilisierung der Gerinnung und die ggf. frühzeitige Korrektur von Faktorendefiziten eine zentrale Rolle. Die Auswahl und die zeitliche Sequenzierung der Applikation der einzelnen Gerinnungskomponenten orientiert sich dabei an der bekannten Reihenfolge des Verlustes bzw. Verbrauchs dieser Komponenten und das jeweilige Unterschreiten kritischer unterer Grenzwerte in Abhängigkeit von Stärke und Dynamik des BV (siehe Abbildung).

Nutzung der natürlichen Anämietoleranz des Patienten
Der Ersatz eines BV durch erythrozytenfreie Infusionslösungen führt unmittelbar zur Entwicklung einer „Verdünnungsanämie“. In Allgemeinanästhesie und unter Aufrechterhaltung von Normovolämie wird diese bis zu sehr niedrigen Hb-Konzentrationen ohne Gefährdung von Organperfusion, -oxygenierung und -funktion toleriert (sog. „natürliche Anämietoleranz“ des menschlichen Organismus). Eine Angabe allgemein gültiger Zahlenwerte für die minimal tolerable Hb-Konzentration eines Menschen ist unmöglich, da diese sowohl inter- als auch intraindividuell unterschiedlich sind und von einer Reihe von Faktoren beeinflusst wird. Bei herzgesunden Versuchstieren und Patienten in Allgemeinanästhesie wurde die Grenze der Verdünnungsanämie bei Hb-Konzentrationen zwischen 3.3 und 1.1 g/dl gefunden. Obwohl sich aus der Kenntnis des aktuellen Schweregrades einer Verdünnungsanämie bei ZJ keine Transfusionsindikation ableiten wird, muss der narkoseführende Anästhesist die Mechanismen und Grenzen der Toleranz einer akuten Anämie kennen, um diese optimal nutzen bzw. in Grenzsituationen effektiv steigern zu können. Maßnahmen zur akuten Steigerung der Anämietoleranz des Organismus sind:

  • Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Normovolämie
  • Hyperoxische Beatmung (FiO2 1.0)
  • Adäquate Narkosetiefe
  • Noradrenalin-Infusion
  • Muskelrelaxierung
  • Hypothermie (aber cave: Gerinnungshemmung)
  • Künstliche Sauerstoffträger


Hierdurch kann Zeit bis zur chirurgischen Kontrolle der Blutung gewonnen werden.

Hilfestellung bei der Einschätzung einer perioperativ auftretenden Verdünnungsanämie quoad vitam leisten die Ergebnisse umfangreicher Patientenstudien, in denen der Zusammenhang zwischen postoperativer Anämie und Letalität der Patienten analysiert wurde. In der Regel stammen diese Daten von ZJ. Bis zu einer postoperativen Hb-Konzentration von 6 bis 8 g/dl konnte – auch bei alten Patienten mit kardiopulmonalen Vorerkrankungen – kein statistischer Zusammenhang mit einer erhöhten postoperativen Letalität hergestellt werden. Bei anämischen Patienten, deren Tod kausal mit Anämie in Verbindung zu bringen war, lag die Hb-Konzentration immer unter 5 g/dl.

Therapie einer postoperativen Anämie
ZJ mit schwerer postoperativer Anämie (Hb < 5 – 6 g/dl bei jungen gesunden Patienten, Hb < 8 g/dl bei alten Patienten bzw. Patienten mit kardiopulmonalen Risikofaktoren) sollten auf der Intensivstation weiter betreut und die Anämietoleranz durch die bereits erläuterten Maßnahmen gesteigert werden. Blutabnahmen sollten auf ein absolutes Mindestmaß reduziert werden. Weiterhin müssen optimale Rahmenbedingungen für die Gerinnung geschaffen und gerinnungswirksame Substanzen sowie Antifibrinolytika frühzeitig eingesetzt werden. Wenn möglich sollten Wund- und Drainagenblut weiter gereinigt und retransfundiert werden. Neben der Substitution der für die Erythropoese erforderlichen Substrate Eisen, Vitamin B12 und Folsäure sollte frühzeitig rekombinantes humanes Erythropoetin appliziert werden.

Prof. Dr. med. Oliver Habler beschäftigte sich im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit am renommierten Institut für Chirurgische Forschung der Ludwig-Maximilians-Universität München intensiv mit der Sauerstoffversorgung des Körpers in Grenzsituationen – insbesondere während extremer Anämie. Aus dieser Forschungsarbeit heraus entwickelte sich einer seiner späteren klinischen Schwerpunkte, die Vermeidung von Fremdbluttransfusionen bei komplexen operativen Eingriffen – eine Thematik von besonderem Interesse für operative Patienten der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas.

Prof. Dr. med. Habler
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Prof. Dr. med. Oliver Habler

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