Hospital zum Heiligen Geist

Behandlung chronisch depressiver Patienten in einer psychosomatischen Tagesklinik

Psychodynamische Aspekte und Besonderheiten der teilstationären psychosomatischen Behandlung: Der Psychoanalytiker Enke (1994) verstand den psychoanalytischen Prozess im stationären Geschehen so, dass es notwendig sei, einen sozialen Wirklichkeitsraum der Klinik therapeutisch zu gestalten und für soziales Lernen und Vergessen zu nutzen. Die Interaktionen, das wirkliche Handeln ebenso wie das Ausagieren müssen reflektiert werden, um so viel wie möglich an Psychoanalyse zu verwirklichen.

Innerhalb der regressionsfördernden tagesklinischen Behandlung – die gleichzeitig noch einige Aspekte der Konfrontation mit der Realität aufrechterhält – erfolgt in der stationären psychoanalytisch orientierten Therapie die Reflexion und Bearbeitung unbewusster Konflikte, wie sie sich in der Übertragung zum Therapeuten oder in aufgespaltenen Übertragungen zu verschiedenen Teammitgliedern zeigen. Für alle Teammitglieder gilt es, für die Abstinenz, die akzeptierende Grundhaltung, die Atmosphäre der Offenheit und des Fragens Sorge zu tragen. Dies soll dem depressiven Patienten, der mit Selbstvorwürfen, Wendung gegen das Selbst, Identifikation mit dem Aggressor und anderen Abwehrmechanismen beschäftigt ist, ermöglichen, mit Vertrauen und Geduld die narzisstische Regression auf das eigene Selbst und den eigenen Körper aufzugeben und sich neuen Beziehungserfahrungen zu stellen. Die Vorbilder der Mitpatienten in den Gruppen sollen die Offenheit des Patienten fördern und ihm ermöglichen, über bisher nicht akzeptable Gefühle zu sprechen. Dies wird nur möglich sein, wenn die Einzel- und Gruppentherapeuten in der Lage sind, sich in das innere Erleben, die Gefühle und Ängste des Patienten einzufühlen und gleichzeitig auch bei inakzeptablen Gefühlen als Container fungieren. Dabei müssen die Abwehrbedürfnisse des Patienten beachtet werden (Thomä und Kächele, 1985, 1988).

Im Rahmen der Tagesklinikbehandlung kommt es nicht selten zu Wiederholungen der Situation, dass depressive Patienten Konflikte innerhalb des Settings zur Sicherung der Beziehung gegen sich selbst wenden. Die nach Kränkung auftretenden Spannungen und Wutgefühle werden nicht als Folge, sondern als ursächlich für die eingetretene Distanz fantasiert und im Weiteren in Form der schuldhaften Wendung gegen das eigene Ich verarbeitet.
Es etabliert sich entsprechend häufig die Vorstellung „selber schuld“ an der eingetretenen Situation zu sein, wie auch ein Kind in der Deprivation sich selbst als ursächlich für den Verlust fantasiert. Durch diese beim Erwachsenen dann verinnerlicht und unbewusst ablaufende autoaggressive Konfliktverarbeitung kommt es zu einer weiteren Schwächung realitätsbezogener Bewältigungsmöglichkeiten und in der Folge zu einer Verstärkung
der depressiven Symptomatik. Hieraus resultieren dann beispielsweise die psychomotorischen Hemmungssymptome, Selbstzweifel, Schuldgefühle oder Selbstanklagen bis hin zur Suizidalität sowie ungünstige Interaktionen, wie z. B. ein depressiv-ängstliches Anklammern an private oder professionelle Bezugspersonen verbunden mit einer hohen Kränkbarkeit (Rudolf 2000).

Zugang der Patienten in die Tagesklinik

Nach der Anmeldung in unserem Sekretariat durch den Patienten selbst, seinen Hausarzt, Facharzt, psychologischen Psychotherapeuten, durch Ärzte aus anderen Kliniken (z. B. über Konsile aus unserem eigenen, aber auch aus anderen Krankenhäusern in Frankfurt und Umgebung) kommt der Patient zur psychosomatischen Erstdiagnostik (Abb. 1). Hier werden das Ausmaß der Erkrankung, die körperlich-seelischen Zusammenhänge, das Ausmaß der Einschränkungen, die Lebensgeschichte und die Psychodynamik festgestellt. In diesem Erstgespräch versuchen wir dann dem Patienten eine Entscheidungshilfe für den nächsten Schritt im diagnostisch-therapeutischen Prozess zu geben und ihn gegebenenfalls auch für eine Therapie zu motivieren.

Struktur der Therapie

Wichtig für die Struktur der Therapie in unserer Tagesklinik ist, dass sie kein Stand-alone-Bereich ist, sondern dass zu den 50 Tagesklinikplätzen 30 vollstationäre Behandlungsplätze in der Klinik dazukommen. Patienten, die also während der tagesklinischen Behandlung, insbesondere auch in der Nacht oder an den Wochenenden, akute Notfallversorgung brauchen, können sich durchgängig an das stationäre Behandlerteam wenden. In einem
Bereich haben wir sogar eine tagesklinische Einheit mit einer vollstationären Einheit verknüpft, sodass Patienten zunächst im vollstationären Bereich und dann im tagesklinischen Bereich behandelt werden können, ohne den Therapeuten und die Gruppe wechseln zu müssen. Dies ist natürlich auch umgekehrt denkbar, dass ein Patient, der zunächst nur tagesklinisch behandelt werden konnte, später auch vollstationär übernommen werden kann.

Ungefähr 30 bis 40 Prozent aller Tagesklinikpatienten haben die Diagnose einer chronischen Depression als einzige Diagnose oder als Komorbidität. Die Tagesklinikeinheiten bestehen jeweils aus 20 Patienten mit zwei Gruppen. Diese Gruppen stellen dann auch die Kleingruppen
dar, die halb offen sind und durch die Gemeinsamkeit vieler therapeutischer Gruppenaktivitäten ziemlich kohärent sind. Wir haben keine störungsspezifischen Stationen, sondern behandeln die depressiven Patienten mit anderen psychosomatischen Diagnosen zusammen  (Schmerzpatienten, Angststörung, phobische Störung, Essstörung), was zu einer größeren Lebendigkeit in den Gruppen führt. Nichtsdestotrotz haben die depressiven Patienten, ähnlich wie die anderen Diagnosegruppen, störungsspezifische Behandlungsansätze, z. B. in Form der Bezugspflege, der angeordneten Pflegekontakte, der Psychoedukation usw. In der Regel sind die Patienten ca. acht bis zehn Wochen teilstationär, an allen Werktagen beginnt die Therapie um 08:30 und endet um ca. 16:30 Uhr (Abb. 2). Es gibt immer ein gemeinsames Mittagessen. Die übrigen
Mahlzeiten sind zu Hause. Die Behandlungsdichte während der tagesklinischen Behandlung ist relativ intensiv, sodass jeder Patient über 20 Behandlungsstunden im Durchschnitt in der Woche hat. Patienten mit depressiven Störungen können allmählich in die Therapien eingeführt werden, wenn sie zunächst mit der Intensität der Behandlung überfordert sind.

Integration der unterschiedlichen Therapieverfahren

Da die Patienten im Team unterschiedliche Objektbeziehungserfahrungen auf unterschiedliche Therapeuten projizieren, ja zum Teil sogar spalten, ist es besonders wichtig, die Partialobjektanteile im Team wieder zusammenzuführen. Wir müssen in unseren Besprechungen wieder ein Gesamtbild des Patienten entwerfen, die unterschiedlichen Aspekte im Team und dann vor allem im Einzeltherapeuten wieder integrieren. Dafür haben wir verschiedene Teambesprechungen. Besonders wichtig sind natürlich die Besprechungen am Montag (nach dem Wochenende) und am Freitag (Wochenendbesprechung und Besprechung der Neuaufnahmen) sowie die Übergabetermine der verschiedenen Stationen morgens am Arbeitsbeginn. Insbesondere montags, freitags und bei der Visite in der Mitte der Woche, sind nach Möglichkeit alle an der Therapie beteiligten Mitarbeiter versammelt. Hier geht es darum, aus den verschiedenen Aspekten ein möglichst umfassendes Bild über den derzeitigen Fokus des Patienten zu etablieren. Aufgabe ist es, für jeden Patienten, den wir besprechen, einen Fokus vor der Visite zu finden. Dieser Fokus besteht immer aus einem wünschenswerten Entwicklungsschritt des Patienten und dem Grund für die Abwehr oder Hemmung auf der anderen Seite. So ein Fokus kann also z. B. heißen: „Wie kann sie freundlich sein, auch wenn sie Angst hat, falsch verstanden und überwältigt zu werden."
 

In der Begegnung des Gesamtteams mit den Patienten in den Aufenthaltsräumen (während des zweiten Teils der Gesamtvisite) wird zum einen dieser Versuch der Integration konkret dargestellt, andererseits wird bei der Gelegenheit durch den Chefarzt, als Vertreter der Gruppe, versucht, diesem Fokus den Patienten zu übermitteln. Für einen depressiven Patienten kann z. B. so ein Fokus auch lauten: „Wie kann er aggressiv sein, obwohl er sich für das Geschehene immer selbst schuldig fühlt." Sehr wichtig für den Gesamt-„Container" der Abteilung ist die psychoanalytische Supervision, die 14-tägig stattfindet und zwei Stunden dauert. In dieser Supervision findet eine patientenzentrierte Gruppensupervision statt.
Hier sollen vor allem Gegenübertragungshindernisse, die verhindern, dass eine heilende Atmosphäre in dem Gesamtteam überwiegt, deutlich gemacht und überwunden werden. Sehr häufig sind die Konflikte innerhalb des Teams auch ausgelöst von externalisierten Konflikten und Spaltungen der Patienten, andererseits können auch teaminterne, patientenunabhängige Konflikte ein ungünstiges Therapieklima schaffen.

Männer bevorzugen tagesklinische Behandlung

Ein ganz wichtiger Aspekt im Umgang mit depressiven Patienten ist die Verantwortung für die Suizidalität des Patienten. Diese wird nach  Möglichkeit gemeinsam getragen. Suizidale Impulse werden immer ernst genommen, es wird abgeklärt, inwiefern eine Absprechbarkeit mit dem Patienten möglich ist und welche äußeren Maßnahmen (Beschränkung des Ausgangs, feste Besprechungstermine, ein Suizidvertrag usw.) nötig sind, um das Überleben des Patienten zu sichern. Immer kommt der größte Halt aus der Beziehung und dies gilt es zu nutzen. Durch die große  Einzeltherapiedichte haben wir hier einen großen Vorteil in unserem Setting und deshalb kaum Suizidversuche. Sehr selten ist auch eine vorübergehende Einweisung in eine geschütztere Umgebung nötig. Dies kann bedeuten, dass der Patient vollstationär aufgenommen wird oder gar in eine geschützte Umgebung, in eine psychiatrische Klinik, eingewiesen werden muss.

Vorteile und Nachteile im Vergleich zur vollstationären Behandlung

Die tagesklinische Behandlung ermöglicht ein geringeres Ausmaß der sozialen Isolierung. Frühere Erfahrungen mit stationären Krankenhausaufenthalten sind möglicherweise nicht so belastend. Bei einigen Patienten ist die Gefahr einer Regression und einer Hospitalisierung geringer, wenn sie täglich nach Hause gehen und immer wieder die Alltagswelt und die gewohnte Umgebung erfahren. Sie können dadurch wichtige soziale Beziehungen im Umfeld aufrechterhalten. Die Tagesstruktur mit der intensiven Therapie ist durchaus schon eine Belastungserprobung für die Patienten. Insbesondere wenn depressive Patienten krankgeschrieben sind, ist die ambulante Einzeltherapie zu wenig Herausforderung für die kognitive Belastung und das emotionale Training im Alltag. Durch die nur teilweise Herausnahme kann die Heilung verzögert werden, da der Abstand zu belastenden Situationen im familiären Umfeld im Vergleich zu einer stationären Therapie geringer ist. Möglicherweise sind auch noch Belastungen im Alltag (Pflege von Angehörigen, Kinder, Haustiere, Auseinandersetzungen in der Partnerschaft) ein Hindernis für die Heilung.
Patienten, die stationär sind, haben in der Regel eine größere Angst vor Stigmatisierung. Insbesondere bei Männern haben wir die Erfahrung gemacht, dass sie sehr viel lieber tagesklinisch kommen als stationär, weil sie stationär eine größere Stigmatisierung befürchten.

Im Falle des Auftretens von Suizidalität sind die Überwachungsmöglichkeiten und die Möglichkeit der Belastung durch unvorhergesehene Ereignisse im tagesklinischen Bereich wesentlich kleiner als im stationären Bereich. Die Entfernung aus dem familiären Umfeld ist gelegentlich mehr als wünschenswert. Natürlich ist das Ausmaß der Erschöpfung auch mitentscheidend für die Frage einer stationären oder tagesklinischen Behandlung. Möglicherweise ist auch der Anreiseweg zu groß für eine tagesklinische Behandlung. Ein Ausagieren oder Ausweichen vor Konflikten durch  Abwesenheit kommt in der Tagesklinik häufiger vor, da das Überwinden des morgendlichen Weges doch schon erhebliche Probleme bringen kann und damit ein Ausweichen im tagesklinischen Bereich durch Nichtteilnahme sehr viel leichter möglich ist als im stationären Setting. Dort kann der Patient mit Antriebsstörung wesentlich besser und konkreter unterstützt werden als im tagesklinischen Bereich. Je nachdem wie stark die Selbstverletzungen oder auch Essstörungen von Patienten sind, ist möglicherweise eine permanente Überwachung und Kontrollmöglichkeit nötig.  Die tagesklinischen Patienten müssen in der Regel auch ein höheres Maß an Compliance zeigen als die stationären Patienten.
Die Ablehnung eines stationären Aufenthaltes trotz größter Beeinträchtigung durch die Symptome kann auch ein Vermeidungsverhalten gegenüber der notwendigen Regression darstellen. Die täglichen Alltagsbelastungen können einerseits sehr förderlich sein, andererseits natürlich auch eine Überlastung darstellen. Interessanterweise haben Patienten mit frühen Störungen oft große Angst vor der Intensität von Kontakten und  Begegnungen im stationären Bereich und brauchen den abendlichen Rückzug im teilstationären Setting.

Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kollegen und Kooperationstreffen

In den vergangenen Jahren, seit der Entstehung der psychosomatischen Klinik am Hospital zum Heiligen Geist (1996), hat sich die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Psychotherapeuten immer mehr intensiviert. Nicht selten werden jetzt auch Patienten, die in eine Krise während der ambulanten Behandlung geraten sind, in die Tagesklinik eingewiesen, um dann anschließend weiter betreut zu werden. Außerdem gibt es nicht wenige niedergelassenen Kollegen, die Patienten, bei denen ein ambulanter Ansatz nicht ausreicht, schon mit der Maßgabe zu uns schicken, dass sie danach ein Behandlungsplatz bei ihnen bekommen. Der niedergelassene Therapeut bekommt mit Einverständnis des Patienten einen detaillierten Bericht über die stationäre Behandlung.

Kein Stand-alone-Bereich

Da wir um die Bedeutung der Kooperation für das Gelingen der langfristigen Behandlung des Patienten wissen, haben wir in den vergangenen zehn Jahren das Netzwerk verdichtet. Insbesondere haben wir mit den niedergelassenen Kollegen ein regelmäßiges Kooperationstreffen vereinbart. Dieses findet zweimal jährlich abends (zwei Stunden) statt. An ihnen nehmen alle Ärzte der Abteilung und interessierte niedergelassene Kollegen teil. Das Treffen dient dem Austausch von Problemen an den Übergängen, z. B. die Frage der Überweisung, die Frage der Wartezeiten, die Frage der Übertragungsschicksale, die Frage der Entwöhnung der Patienten aus dem Krankenhausbereich usw. Es entstehen dadurch interessante Falldiskussionen und Dokumentationen, auch Fälle, bei denen Patienten mehrfach zwischen den einzelnen Bereichen hin und her pendeln bis allmählich eine Besserung stattfindet. Insbesondere für die traumatisierten Patienten stellt dieser Austausch eine wichtige Brücke dar, die in der Kindheit erlebte Traumatisierungen deutlich leichter behandeln lässt, da das imaginierte „Elternpaar“ (stationär-tagesklinisch-ambulant) wirklich zusammenarbeitet und Kontinuität bietet. Diese Kooperationstreffen stellen für beide Seiten einen wichtigen Anker in der Zusammenarbeit dar. An diesen Abenden können die niedergelassenen Kollegen ein Bild von den Ärzten in der Klinik bekommen und umgekehrt. Dies erleichtert auch die Übergabe des Patienten an den entsprechenden Kollegen. Dieser Vertrauensvorschuss spielt oft beim Gelingen einer Anschlussbehandlung eine wichtige Rolle, insbesondere wenn ein Patient, Entwertungen auszuagieren versucht.

Die Zusammenarbeit zwischen der Klinik und den  niedergelassenen Kollegen wird auch durch zweimal jährlich stattfindende Klinikabende vertieft, an denen immer wieder Fälle aus dem Alltag dargestellt und diskutiert werden.

Chefarzt

Dr. med. Wolfgang Merkle

Telefon
Fax (069) 2196 - 2103
E-Mail rapisarda-eletto.christine(at)hohg(dot)de