Hospital zum Heiligen Geist

Spätfolgen der Traumatisierungen durch Krieg und Nazizeit: Eine ärztliche Herausforderung

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erleben wir in Deutschland – seit nun mehr als 70 Jahren – eine Phase des Friedens und doch leiden die Menschen, die die Geschehnisse damals in traumatischer Art und Weise miterleben mussten, oft noch heute an den Folgen des Krieges und der Nazidiktatur.

Nachdem es diese Generation in der Phase des Wirtschaftswunders und des Aufbaus erfolgreich geschafft hat, das Erlebte zu verdrängen, zu vergessen und einfach zu funktionieren, kommen im Alter die „Geister der Vergangenheit“ wieder hoch. Unverdaute Erlebnisse und nicht Begreifbares tauchen verstärkt bei Betroffenen auf, wenn im Ruhestand Zeit und Ruhe vorhanden sind und Raum zum Erinnern entsteht. Viele Menschen wollen vor ihrem Tod noch einmal Dinge klären, versuchen oder begreifen. Der Mensch wird im Alter in biopsychosozialer Hinsicht verletzlicher für neue und durchlässiger für frühere Ängste und Traumen. Zur Traumareaktivierung bedarf es durch die psychische Labilisierung und die Abnahme der Resilienz, weniger heftiger Reize und Erlebnisse.

Sehr oft kommt die Reaktivierung auch über das Gedächtnis des Körpers (des Körperselbst). Operationen, Situationen des Ausgeliefertseins in Krankenhäusern oder Heimen können eine solche Reaktivierung des Traumas auslösen. Wie auch sonst bei somatoformen Beschwerden, ist der Körper dem Seelischen behilflich, das Unfassbare, das unerträgliche Ausmaß der Ohnmacht oder des Schmerzes zu „verschmerzen“. So wird auch in dieser Situation wieder körperlicher Schmerz aus dem, was seelischer Schmerz hätte werden können.

Sigmund Freud drückte das einmal ungefähr so aus: Das Schreckliche kommt über körperliche Beschwerden zum Ausdruck. Somit hängt es sehr von der Fähigkeit der Internisten, Allgemeinärzte, Chirurgen, Gynäkologen, Urologen und sonstigen oft vorwiegend somatischen Ärzten ab, ob die leib-seelische Geschichte dieser Patienten „gehört und gelesen“ wird.

Beispiel 1: Patientin L.

Die 78-jährige Frau L. kam zu uns in das Interdisziplinäre Schmerzzentrum des Hospitals zum Heiligen Geist. Die Patientin litt schon seit vielen Jahren unter starken Rückenschmerzen. 2004 hatte es sie „so
richtig erwischt“ und sie ging das erste Mal zu einem Schmerztherapeuten, der ihr einige Jahre lang gut helfen konnte. Doch im Frühjahr 2017 nahmen die Beschwerden erneut zu: Sie konnte kaum noch aufstehen, kaum Treppensteigen und benutze den Rollator ihres Ehemanns. Ambulant wurde eine Opioidtherapie begonnen. Doch obwohl ihre Grundstimmung gut war, berichtete sie von Tränenausbrüchen, Antriebsschwierigkeiten, Gedächtnisverlust und Konzentrationsschwäche.

Rückfragen unseres Ärzteteams ergaben im Laufe der Therapie, dass die Patientin in den 40er-Jahren in Hamburg das Licht der Welt erblickt hatte. Sie hatte zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester. An ihrem dritten Geburtstag ereignete sich ein schweres Unglück: Ihr zweitältester Bruder wurde von einer Granate getötet, die ein anderer Junge ausprobieren wollte. Bis heute geht sie davon aus, dass ihre Mutter ihr insgeheim die Schuld an dem Tod des Bruders gab, da sie hätte aufpassen müssen. So erklärt sie sich auch, die immer angespannte Beziehung zu der eigenen Mutter. Über den Tod des Bruders kann bis heute nicht offen in der Familie gesprochen werden.

Bei der Therapie – auch 75 Jahren nach dem schrecklichen Ereignis – sind die Bilder, wie ihr Bruder vor ihr verbrannte, immer noch voller Schmerz. Sie selbst hatte immer das Gefühl, dass diese Situation ihr Leben geprägt hat, wobei ihr erst heute richtig bewusst wird, wie sehr ihre Berufswahl (erst Krankenschwester, dann Krankenhausseelsorgerin) durch dieses Kriegstrauma mitbestimmt wurde. Bei der Patientin wurde die Psychotherapieform „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) eingesetzt. Dabei wurde ihr deutlich, dass ihr eine andere Situation noch viel mehr in Erinnerung geblieben war als der Unfall ihres Bruders. Am Tag der Beerdigung musste sie als einzige der Kernfamilie zu Hause bleiben und blieb weinend und schreiend alleine am Gartenzaun zurück.

Ich kann es langsam fassen“,

sagte eine Patientin in der Therapie.


„Ja können Sie es auch fühlen?“

fragte ich.


„Na ja ein bisschen – aber noch nicht mit
dem Kopf!“.

Beispiel 2: Patientin M.

Frau M. ist 73 Jahre alt, als sie nach fünf Jahren chirurgischer Interventionen bei uns vorgestellt wird. Im Arztbrief der Chirurgie einer Nachbarklinik stand: „Wir empfehlen die Vorstellung in der Psychosomatischen Klinik im Hospital zum Heiligen Geist als neuen Therapieansatz.“ Im Erstgespräch erschien die Patientin zunächst völlig unauffällig. Die Frau berichtete glaubhaft, dass sie eine glückliche
Ehe habe – der Mann hatte sie zum Erstgespräch begleitet. Zudem erzählte sie von einer erfüllten beruflichen Tätigkeit bis zur Berentung und einem glücklichen Familienleben mit einem sehr guten Verhältnis zu ihren beiden Söhnen und den Enkelkindern. Dann beschrieb sie ihre Bauch-Beschwerden der vergangenen Jahre und auch unser Behandlungsteam war erstaunt, da auf den ersten Blick keinerlei psychosoziale Belastung, ein innerer oder äußerer Konflikt oder ein großer Verlust zu erkennen war. Die Frage, ob denn Bauchschmerzen in ihrem Leben schon häufiger aufgetreten seien, verneinte sie. Unser Team ermunterte dann die Patienten, etwas aus ihrem Leben zu erzählen.

Sie berichtete, dass sie in Hamburg als Einzelkind aufgewachsen ist. Die Mutter sei sehr kühl gewesen, der Vater sehr herzlich. Die Patientin hatte sich immer über die Distanz der Mutter gewundert. Mit 17 starb der Vater sehr plötzlich, worüber sie untröstlich war. Als sie am Grab bitterlich weinte, sagte ihre Mutter: „Stell dich nicht so an, es war sowieso nicht dein leiblicher Vater.“ So erfuhr sie, dass sie in Ostpreußen geboren wurde. Da ihr leiblicher Vater damals im Krieg war, gab ihre leibliche Mutter sie in ein Heim. Die Eltern, bei denen sie aufgewachsen war, hatten sie also als Kleinkind adoptiert.

So erfuhr sie erst mit 17 Jahren, woher sie stammte und wer ihre wirklichen Eltern waren. Anfangs versuchte sie, diese Tatsache zu verdrängen und zu vergessen und meisterte ihr Leben erfolgreich. Erst
mit Beginn des Ruhestands wuchs ihr Interesse, ihre Ursprungsfamilie und ihre Herkunft kennenzulernen. Mit Hilfe des Roten Kreuzes ermittelte sie, dass ihre leibliche Mutter in der Zwischenzeit gestorben war, dass es aber drei Stiefgeschwister gab, die sie dann auch besuchte. Kurze Zeit später begannen ihre Bauchschmerzen und sie konnte erst jetzt eine vage Beziehung zu diesem Schmerz herstellen.

Beispiel 3: Patient N.

Der 84-jährige jüdische Rentner hatte in den Jahren von 1995 bis 1997 insgesamt 15 Kilo – von 65 auf 50 – abgenommen und wurde deshalb internistisch umfassend untersucht – einschließlich cranialer Computertomografie (CCT), Computertomografie (CT), Kernspintomografie (MRT), Magenspiegelung (Gastroskopie), Ösophagus- Breischluck und Thoraxdurchleutung samt Laparotomie. Zum Lebenserhalt wurde ihm letztendlich eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), eine Magensonde über die Bauchwand, gelegt. Der behandelnde Gastroenterologe überwies uns den Patienten, da er Anzeichen einer Depression aufwies.

Eine ausführliche Anamnese mit dem Patienten ergab, dass er während des Dritten Reiches in Polen lebte. Er überlebte die Schreckensherrschaft, während mehr als 50 Personen aus seinem engen Verwandten- und Bekanntenkreis, unter anderem seine beiden Schwestern und die Eltern, in Konzentrationslagern starben. Unter menschenunwürdigen Bedingungen mit Verleugnungen, Tricks und Lügen hatte er es geschafft zu überleben. Nach der Nazizeit kam er nach Deutschland, obwohl er eigentlich nach Amerika auswandern wollte.

Bis zur Aufnahme der Psychotherapie im Jahr 1997 hatte er immer noch das Gefühl, in Warschau zu Hause zu sein. Die Berentung und sein Umzug sowie der damit verbundene Verlust der lebendigeren Umgebung führte bei ihm zu einer schweren, lebensbedrohlichen Anorexie, ohne dass der Patient auf der bewussten Ebene lebensmüde Gedanken hatte. Er war seit mehr als 50 Jahren in einer stabilen Ehe, hatte zu seinem Sohn und seinem Enkel einen guten Kontakt. Zwei Jahre tiefenpsychologische Psychotherapie, ermöglichte ihm über die belastenden Lebensereignisse zu sprechen. Ergebnis: Seine Symptome besserten sich, er bekam wieder Appetit und sogar die PEG-Sonde konnte wieder entfernt werden.

Tiefenpsychologische Psychotherapie

Immer wieder kommen Fragen auf, warum es gut sein soll, in diesen alten Wunden zu wühlen und die grässliche Vergangenheit noch einmal anzuschauen. Darauf kann es zwei Antworten geben:

1. Die Patienten kommen zu uns, weil diese unverdaulichen Erlebnisse nicht wirklich verarbeitet sind, sondern möglicherweise Teil des Ursprungs der Beschwerden sind, die den Patienten zur somatischen
Medizin bringen.

2. Wenn diese Erlebnisse erst jetzt so heftig zum Vorschein kommen, liegt es meist auch daran, dass erst jetzt eine Situation eingetreten ist, die die Geschichte noch einmal in Erinnerung bringt. Oft sind dies auch zeitgenössische Ereignisse (wie z. B. die Syrien-Flüchtlinge).

Es ist gerade jetzt, da noch viele dieser durch den Zweiten Weltkrieg und die Nazidiktatur traumatisierten Menschen leben, sehr wichtig, dass wir für die Patienten ein offenes Ohr haben und Andeutungen und Anzeichen frühzeitig erkennen. So ist es möglich, dass die Chronifizierung der möglicherweise körperlichen Beschwerden durch frühe Erfassung der wirksamen psychosozialen erinnerten Belastungen verhindert werden kann. „Ich kann es langsam fassen“, sagte eine Patientin in der Therapie. „Ja können Sie es auch fühlen?“ fragte ich. „Na ja ein bisschen – aber noch nicht mit dem Kopf!“.

Chefarzt

Dr. med. Wolfgang Merkle

Telefon
Fax (069) 2196 - 2103
E-Mail rapisarda-eletto.christine(at)hohg(dot)de